Die Autoaggression stoppenMit einer Immuntherapie wollen Forscher bei Typ-1-Diabetikern die Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen verhindern. Das ist schwieriger als gedacht.
In der Krebsmedizin ist die Immuntherapie der Shootingstar. Fast alles dreht sich um die Frage, wie die Körperabwehr beeinflusst werden kann, damit sie die entarteten Zellen besser erkennen und bekämpfen kann. Einen vergleichbaren Stellenwert hat die Immuntherapie beim Typ-1-Diabetes noch nicht. Doch auch bei dieser Krankheit könnte eine Modulation der Immunantwort hilfreich sein, wie eine neue Arbeit aus Grossbritannien nahelegt.¹
Im Gegensatz zum viel häufigeren Typ-2-Diabetes, der vor allem durch Übergewicht auslöst wird, gilt der Typ-1-Diabetes als Autoimmunkrankheit, die bei Personen mit genetischer Disposition auftritt. Ohne dass man die Gründe dafür kennt, greifen «wild gewordene» Immunzellen die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse an. Weil diese Betazellen dabei zerstört werden, müssen sich Typ-1-Diabetiker lebenslang Insulin spritzen.
Seit über zwanzig Jahren versuchen Forscher, den Prozess der Betazellen-Zerstörung zu verhindern. Dazu wurden Medikamente wie Kortison oder Cyclosporin eingesetzt – doch eine solche unspezifische Immunsuppression produzierte vor allem Nebenwirkungen. Neuerdings versucht man, das aggressive Immunsystem mit gezielteren Eingriffen milde zu stimmen. Dazu werden dem Patienten zum Beispiel kleine, körpereigene Eiweiss-Stücke verabreicht, gegen die seine Abwehr fälschlicherweise reagiert – was sich im Blut anhand von spezifischen Antikörpern und Immunzellen (autoaggressiven T-Zellen) erkennen lässt. Indem man nun genau diese Antigene dem Immunsystem präsentiert, soll es lernen, sie zu tolerieren.
Insulin-Antigen soll Immuntoleranz bewirkenDass die Rechnung aufgehen könnte, zeigen nun Mohammad Alhadj Ali von der Cardiff University School of Medicine und seine Kollegen in ihrer Studie. Sie spritzten neunzehn neu diagnostizierten Typ-1-Diabetikern sechs Monate lang entweder zwei- oder vierwöchentlich ein Antigen unter die Haut, das auf dem Vorläuferprotein von Insulin (Proinsulin) vorkommt. Während insgesamt zwölf Monaten verglichen sie den Krankheitsverlauf der Patienten mit jenem von acht Typ-1-Diabetikern, die ein Placebo gespritzt bekommen hatten.
Tatsächlich schien die Immuntherapie im Körper der Patienten etwas zu bewirken. So stabilisierte sich bei ihnen der Bedarf an von aussen zugeführtem Insulin, was laut den Forschern darauf hindeuten könnte, dass die Zerstörung der Betazellen gestoppt werden konnte. Bei den Patienten in der Placebo-Gruppe hingegen nahm der Insulinbedarf für die Kontrolle des Blutzuckerwerts bis Studienende um 50 Prozent zu.
Zusätzlich zu diesen metabolischen Unterschieden fanden die Forscher im Blut der Patienten auch immunologische Veränderungen. So änderte sich bei den Patienten in der Proinsulin-Gruppe das Verhältnis zwischen autoaggressiven und mehr vermittelnden Immunzellen zugunsten Letzterer. Die auch als regulatorische T-Zellen bezeichneten Immunzellen nehmen laut Fachleuten in der Vermittlung von Immuntoleranz eine Schlüsselrolle ein. Daher gibt es auch Forscher wie Jeffrey Bluestone von der University of California in San Francisco, die Typ-1-Diabetiker im Rahmen von klinischen Studien mit körpereigenen und im Labor vervielfältigten regulatorischen T-Zellen behandeln.
Zeitlich beschränkte Stabilisierung des VerlaufsAlle diese Versuche, über Antigene, regulatorische T-Zellen oder Signalmoleküle die Autoaggression beim Typ-1-Diabetes zu überwinden, seien wichtig, sagt der Diabetologe Marc Donath vom Universitätsspital Basel. Gleichzeitig sei es aber schon erstaunlich, wie bescheiden die damit erzielten Ergebnisse bisher ausgefallen seien. Laut dem Arzt ist im besten Fall wie bei der britischen Arbeit mit einer – meist zeitlich beschränkten – Stabilisierung des Krankheitsverlaufs zu rechnen.
Das ist bei anderen Autoimmunkrankheiten wie der rheumatischen Gelenkentzündung oder der multiplen Sklerose anders. Hier hat die Immuntherapie grosse Fortschritte gebracht. «Das muss einem zu denken geben», sagt Donath, der in Fachartikeln und an Kongressen die Rolle der Autoimmunität beim Typ-1-Diabetes immer wieder in Zweifel zieht.
Wahrscheinlich gebe es schon eine Gruppe von Typ-1-Diabetikern, bei denen dieser Krankheitsmechanismus zentral sei, so Donath. Doch bei den meisten dürfte die Autoimmunität – anders als bei der in der Forschung eingesetzten «Diabetes-Maus» – erst an zweiter Stelle kommen, wenn die Betazellen schon zerstört sind und die zuvor in den Zellen verborgenen Antigene dem Immunsystem präsentiert werden.
Was aber hätte dann die Betazellen umgebracht? Möglicherweise eine virale Infektion oder eine genetische Ursache, die den ganzen Krankheitsprozess ins Rollen bringe, vermutet Donath. Solange man hier nicht mehr Klarheit hat, werden Typ-1-Diabetiker auf das nach wie vor einzige wirksame Medikament angewiesen bleiben: Insulin.
Pressemitteilung: Neue Zürcher Zeitung AG (NZZ)
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